2019-04-03

#rp19-Speakerin Sybille Krämer: Die "Kulturtechnik der Verflachung"

Sybille Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Sie fordert eine neue digitale Aufklärung, die den Umgang mit Buchstaben wieder ins Bewusstsein rückt. Denn: Auch Algorithmen sind letztlich aus Schrift und Zeichen entstanden.

Sybille Krämers Arbeitsfelder sind Epistemologie, Rationalismus, Medienphilosophie und Theorie der Kulturtechniken. Sie war Gastprofessorin an den Universitäten in Tokio, Wien, Graz, Zürich und Luzern und Mitglied des Wissenschaftsrates und des Wissenschaftlichen Gremiums des Europäischen Forschungsrates in Brüssel.

tl;dr – 3 Fragen an … Sybille Krämer.

Woran arbeiten Sie derzeit, worum könnte es in Ihrem Talk auf der #rp19 gehen?
Von der Höhlenmalerei, über die HauttTätowierung bis hin zu Bildern, Schriften, Diagrammen, Karten und den Computerbildschirmen und Smartphones zieht sich der rote Faden einer 'Kulturtechnik der Verflachung': Viele Künste (Choreografie, Musiknotation, Skripte), alle Wissenschaften sowie technisch-architektonische Entwurfshandlungen und gesellschaftliche Kommunikation (Dokumente, Mails) wären undenkbar ohne diese Erfindung von formatierten Flächen, die beschreibbar und bebilderbar sind. Der schöpferische Kunstgriff der artifiziellen Fläche besteht darin, dass das lebensweltliche 'Dahinter', das bei unseren drei Körperachsen rechts/links, oben/unten, vorne/hinten die uneinsehbare und unkontrollierbare Tiefenregion abgibt, amputiert wird: Als Ordnungsmatrix werden nur rechts/links, oben/unten auf die Fläche projiziert. So entsteht ein mobiler, scheinbar vollkommen kontrollierbarer zweidimensionaler Raum, ohne den der Fortgang technischer Zivilisationen nicht möglich wäre. Doch was geschieht, wenn an die Stelle des bedruckten Papiers das vernetzte Interface tritt? Die These ist, dass dann infolge der rhizomartig wuchernden, miteinander ohne Nutzerzugriff interagierenden Protokolle, Algorithmen und Maschinen, eine unkontrollierbare Tiefendimension zurückkehrt. 
 
Das diesjährige Motto lautet 'tl;dr' (too long; didn't read). Welches Thema, das Ihnen am Herzen liegt, leidet besonders unter Vereinfachung und Abkürzung?
Nur ein Teilaspekt von vielen: Das Problem ist der Verlust der Zeit durch den Siegeszug der 'digitalen Instantaneität': Die Kulturtechnik der Schrift, also Schreiben/Lesen verlangsamt den Umgang mit Sprache. So wird reflexive und kritische Distanz gewonnen zu dem was wir – schreibend – sagen und dem was wir – lesend – rezipieren. 'Verlangsamung' ist eine Springquelle von Intellektualität und Verstehen. Sobald die Digitalität jeglichen Zeitabstand zu überspringen, zu annulierenannullieren scheint, das Intervall zwischen Schreiben und Sagen, Lesen und Verstehen minimalistisch schrumpft, wird eine alltägliche Erwartungshaltung des "sofort und gleich und immer das soeben produzierte Neueste" erzeugt, eine Haltung, welche Einsicht und Kritik gerade unterwandern, wenn nicht gar sabotieren kann. 
 
Im Sinne von tl;dr: Was sind Ihre neuesten Lese- und Videoempfehlungen?
Immer noch unübertroffen aufschlussreich: Stephen Ramsay: Reading Machines: Toward an Algorithmic Criticism, Urbana, IL: University of Illinois Press, 2011.
Außerdem Technisch: Tim Berner-Lees neue Versuche eine Webarchitektur zu entwickeln (Open Source), die uns ein Stück weit die Datensouveränität wieder gewinnen lässt.

Hier gehts zu Sybille Krämers Session.